An diesen Nachmittag im Juli kann ich mich noch gut erinnern: Bei uns zu Hause in Hennef, etwas westlich von Bonn, regnete es ungewöhnlich stark und ungewöhnlich lange. Regen gehört zu einem normalen Sommer in Deutschland. Aber dieser Tag war irgendwie anders: Es wollte nicht aufhören zu regnen.
In der Nacht wurde uns klar: Etwas ist anders. Ganz anders. Ich habe die deutsche Katastrophenwarn-App “Nina” auf meinem Smartphone installiert. Und die stand nicht mehr still: Hochwasserwarnungen, Nachrichten über die Evakuierung eines Dorfes, Warnungen vor der Gefahr eines Dammbruchs…. Uns wurde bewusst: Hier stimmt etwas nicht. Das scheint etwas Großes zu sein. Aber wir hatten noch keine Ahnung, wie groß es sein würde.
Am nächsten Morgen gab es die ersten Katastrophenmeldungen: Nur etwa 60 Kilometer von unserem Wohnort entfernt, östlich von Bonn, war nichts mehr, wie es war. Ganze Dörfer waren in der Nacht von den Wassermassen dem Erdboden gleichgemacht worden, Familien wurden per Hubschrauber von den Dächern ihrer vom Wasser eingeschlossenen Häuser gerettet. Sintflutartige Flüsse hatten sich durch die historischen Straßen beschaulicher und malerischer Touristenorte gewälzt und alles mitgerissen, was sich ihnen in den Weg stellte. Die schreckliche Erkenntnis war, dass dies auch Menschen betraf, die sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Mehrere Freunde von uns und Mitglieder von Kirchengemeinden in Bonn, die wir seit Jahren kennen, waren betroffen, einige von ihnen auf die schlimmste Weise: Vermisste Familienmitglieder, überflutete Häuser, weggeschwemmte Autos, zerstörte Inneneinrichtungen.
Auch fast zwei Wochen nach der Katastrophennacht ist die Situation im Katastrophengebiet immer noch schrecklich. Doch was uns in diesen Zeiten auf einer tieferen Ebene bewegt, ist die geistliche Dimension dieser schrecklichen Naturgewalten. Es war durch die Weltmedien gegangen, dass einer der am schlimmsten betroffenen Orte im Ahrtal der Ort Schuld war. Wenige Tage nach der Katastrophe reiste auch Bundeskanzlerin Merkel an den Ort des Geschehens: Sie besuchte das Dorf Schuld. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich diese Worte sage: Die Regierungschefin eines der reichsten Länder der Welt stapft durch die Trümmer von “Schuld”.
Verständlicherweise wird in unseren deutschen Medien wenig darüber berichtet. Es ist schließlich “nur” ein Ortsname, wie jeder andere auch. Aber als geistlich sensible Menschen können wir nicht anders, als an dieser Stelle zumindest innezuhalten. Namen haben uns etwas zu sagen. Und auch wenn wir nicht zu schnellen und simplen Schlussfolgerungen neigen wollen, gibt uns dieser seltsame “Zufall” zu denken. Ganz Deutschland, eine ganze Nation, für ein paar Tage sogar die gesamte Weltöffentlichkeit und die globalen Medien, schauen auf “Schuld” und betrachten fassungslos ein Ausmaß an Tod, Zerstörung und Leid als Folge einer in Deutschland bisher unbekannten Naturkatastrophe. Und wir fragen uns, wie so etwas in unserer scheinbar sicheren westlichen Welt geschehen konnte.
Eine Bekannte aus Indien, die sich mit uns in den weltweiten Bemühungen um die Bewahrung der Schöpfung engagiert, schrieb mir kurz nach der Katastrophe angesichts meines Berichts über Tote und Vermisste infolge der Naturkatastrophe: “Das ist eine riesige Zahl für eure Region.” Sie selbst hatte die Region vor einigen Jahren im Rahmen der COP23-Klimakonferenz in Bonn besucht und hier auch einen Gottesdienst mit dem Schwerpunkt Schöpfungsbewahrung mitgestaltet. Aber wenn wir ganz ehrlich sind: Damals haben wahrscheinlich alle Besucher dieses Gottesdienstes gedacht: Na, das ist ja der sichere Teil der Welt hier. Naturkatastrophen als Folge des entfesselten Klimawandels gibt es in anderen Teilen der Welt. Tatsache ist: Das war gestern. Es ist dringend an der Zeit, umzudenken. Die katastrophalen Folgen des Klimawandels haben auch meine Heimat in Bonn erreicht.
Die Solidarität mit den betroffenen Menschen ist großartig: Aus ganz Deutschland sind Helferinnen und Helfer angereist und geben ihr Bestes. Die örtliche Evangelische Allianz erlebt eine Einheit wie nie zuvor. Sie helfen gemeinsam, in Gummistiefeln und mit Schaufeln. Ganz praktisch – für die Menschen vor Ort die überzeugendste und liebevollste Verkündigung des Evangeliums.
Doch im Trubel all der Hilfsbereitschaft wollen wir nicht versäumen, auch die geistliche Dimension dessen wahrzunehmen, was derzeit vor unserer Haustür geschieht. Aufgrund der katastrophalen Situation vor Ort ist die kleine Stadt Schuld für Privatpersonen noch immer gesperrt. Doch niemand kann uns daran hindern, den Ort “Schuld” in Gedanken und Gebeten zu besuchen, um zu erfahren, was Gott uns dort zeigen will.
Mit Gebet und Dankbarkeit für die Vergebung Gottes,
Matthias Böhning, Leiter des WEA-Nachhaltigkeitszentrums in Bonn
(dieser Leitartikel erschien in der August-Ausgabe 2021 des POLLINATOR, dem Newsletter des Lausanne/WEA Creation Care Network)